„Wozu soll es gut sein, mehr Emotionen zuzulassen? Ich habe schon genug mit der aktuellen Situation zu tun und muss vor allem funktionieren. Wenn ich mich jetzt noch meinem Gefühlschaos widme, geht das ganz sicher nach hinten los…“
So oder sehr ähnlich äußerte sich eine Klientin, Führungskraft eines mittelständischen Unternehmens, zuletzt in einem unserer Online Calls.
Und ich gab ihr Recht. Sich dem eigenen Gefühlssalat zu widmen führt schnell zur Überforderung, insbesondere wenn andere Dinge gerade so viel dringlicher sind. Und erst recht in einer beruflichen Umgebung, in der offen gezeigte Emotionalität eher als schwach, störend oder unprofessionell gilt.
Es führt zur Überforderung, weil es ungewohnt ist und uns dafür keine etablierten Verhaltensweisen zur Verfügung stehen.
Und weil alles Ungewohnte zusätzliche Energie verlangt, rebelliert das körpereigene Betriebssystem, das in unserer krisengebeutelten Zeit ohnehin schon oft auf Sparflamme läuft.
Also, wozu Emotionen zulassen?
Es kann kaum oft genug betont werden: Wir leben in einer Zeit des Wandels, in der umfassende Transformationsprozesse gefragt sind.
Vor allem Unternehmen und Organisationen bzw. deren führende Köpfe und Multiplikatoren sind gefragt, diese voran zu bringen.
Ganz konkret seid vor allem Ihr, liebe Kümmerer, gefragt, zwei wesentliche Aufgaben zu erfüllen, wenn der dringend erforderliche Systemwandel gelingen soll:
1. Bitte macht Euch den eigentlichen Sinn Eures Wirkens bewusst: Welchen konkreten Beitrag leistet Ihr mit Eurer Organisation zum Gemeinwohl? Und inwieweit dient Euer tägliches Handeln diesem Beitrag?
2. Bitte macht eine neue Form des Miteinanders möglich. Eine Form, mit der es uns gelingt, gemeinsam zu trans-formieren.
Liebe Kümmerer, damit Euch das gelingt, brauchen wir dringend Eure emotionale Kompetenz.
Noch mehr Erwartungsdruck also, dessen gewollte Erfüllung schnell zur Bekümmerung führen kann.
Kommen wir also zur Ausgangsfrage meiner Klientin zurück: Was hat sie davon, sich ihren vielfältigen Emotionen zu widmen? Ausgerechnet in einer krisengebeutelten Umgebung und ausgerechnet jetzt, wo mehr als je zuvor ihr Funktionieren gefragt ist?
Ich möchte ihr und allen, die sich mit dieser Frage identifizieren können, folgendes dazu sagen:
Insbesondere, wenn dein Durchhaltevermögen gefragt ist und du dich im alltäglichen Überlebenskampf befindest, dann musst du zuallererst aufhören, dich selbst zu bekämpfen. Denn nichts anderes tust du, wenn du deine Empfindungen auf längere Zeit ignorierst oder gegen sie vorgehst.
Auf kurz oder lang wirst du merken, dass dir die dringend benötigte Energie und die Motivation fehlen, dich deiner Aufgabe zu widmen.
Auf kurz über lang wirst du weiterhin merken, dass sich diese verdrängte emotionale Energie über körperliche Beschwerden ihren Weg sucht.
Damit gehst du nicht nur gegen dich selbst vor. Du verwehrst auch uns anderen dein authentisches Selbst und deinen wichtigen Beitrag zum großen Ganzen.
Noch leben wir in einem Wirtschaftssystem, das viele Aspekte unseres Menschseins ausklammern muss, damit es überhaupt funktionieren kann. Wir sind sowohl die Antreiber als auch die Getriebenen eines Systems, das längst an uns selbst vorbei arbeitet.
Ich sehe es als einen der Kernfehler unseres derzeitigen Wirtschaftssystems, dass es auf
einem Menschenbild basiert, das so viele von unseren wichtigsten Eigenschaften ausblendet.
Es ist das Bild des sog. Homo oeconomicus, der immer streng rational handelt und auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Doch dieses Menschenbild greift zu kurz und es wird uns nicht gerecht.
Und es hat Konsequenzen: Viele fühlen eine Leere, weil sie nicht mehr mit ihren Ressourcen in Kontakt sind.
Gleichzeitig merken wir mehr denn je, dass die mechanistisch geprägten Organisationsmodelle veraltet sind. Dass sie mehr und mehr an ihre Grenzen geraten.
Statt ihrer wünschen wir uns intelligente und lebendige Systeme, die dem Ganzen dienen. Die eher einem Ökosystemen als einer Maschinen ähneln.
Damit das funktioniert, musst du dir und müssen wir uns alle unsere volle Lebendigkeit zugestehen.
Denn lebendige Systeme bestehen aus lebendigen Zellen. Im Fall einer Organisation sind das die Mitarbeiter. Und jeder Mitarbeiter, jede Führungskraft, jeder Kümmerer ist ein mit Gefühlen ausgestatteter Mensch, die ein wichtiger Ausdruck seiner Lebendigkeit und Intelligenz sind.
Sobald du diese Lebendigkeit vollumfassend einbringst, wird dein Wirken wieder zur Herzensangelegenheit. Dann entsteht die intrinsische Motivation, die in dieser krisenhaften Zeit so sehr gebraucht wird und die außergewöhnliche Erfolge ermöglicht.
Dann entsteht eine echte Identifikation mit deinem Tun und mit der Organisation, der du deine Energie widmest. Und dann braucht es keine Mitarbeiterbindungsprogramme und kein ausgeklügeltes Talent Management mehr.
Und noch etwas:
Wenn du große Teile deines Selbst ausblendest, verhinderst du echte Annäherung. Doch dort wo ich dich mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen sehen darf, gibst du mir die Chance auf eine echte Begegnung.
Mehr denn je erfahren wir auf schmerzliche Art und Weise, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind. Und kaum eine Zeit hat uns so sehr gezeigt, wie wichtig eine tief empfundene Verbundenheit ist, um globale Krisen bewältigen zu können.
Also, liebe Kümmerer, kümmert Euch um Euch und Eure Emotionen. Lasst sie zu, zeigt sie und ermutigt damit andere, es ebenfalls zu tun.
Dies erfordert sicher Mut und ist nicht immer einfach. Es gilt, die eigene Verletzlichkeit neu zu begreifen und die Stärke darin zu erkennen. Oder, um es mit Brené Brown zu formulieren: „Wahrheit und Mut sind nicht immer angenehm, doch sie sind niemals schwach“.
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